Montag, 3. August 2009

demenz

Meine kleine liebe Mama. Meine kleine, liebe, verrückte Mama.

Ich ahnte es.
Immer wusste ich schon im Voraus, wenn ich wieder zurückkam – weil ich gegangen war, um etwas zu besorgen – was mich erwarten würde.

Meine Hand zitterte, als ich den Schlüssel ins Schloss schob.

Da saß sie. Verängstigte Augen. Flatternder Vogel im Käfig. Kopf kaputt.
Ich hätte kotzen können!
Ich würgte und würgte und schluckte. Und lächelte.

Meine kleine verrückte Mama!
Der Geruch – der Geruch – nie würde ich diesen Geruch vergessen! Er fuhr mit rasender Geschwindigkeit in meine Nase, an den Schleimhäuten entlang hinab in den Magen und wendete ihn um und um. Keine Hand vor dem Mund schützte. Der Kot klebte ihr an den Beinen, zwischen den Zehen. Sie pulte ihn sich aus den Händen und beschmierte ihr Gesicht.
Mama! Ich hielt die Hände fest, die mich streicheln wollten. Die Wandfläche in ihrem erreichbaren Umkreis zeichnete ein groteskes Muster. Zum hundertsten Male. Ich rannte halb blind vor Tränen zu der Kiste mit den Latexhandschuhen, wischte mir die Tränen ab, heulte erneut. Mama. Meine arme Mama.

Hab ich ...? Nein, Mama, du hast nichts ...
Ich holte Schüssel, Seife, Lappen, zwang die wandernden Füße ins Wasser, fasste die Hände – zwei unruhige Libellen – mit festem Griff. Mama! Halt doch stil! Die Bitte kam nicht an in ihrem Kopf.
Sie sah. Was ich nicht sah. Ihr Blick glitt vorbei, bohrte ein Loch ins Fensterglas, flog hinaus in die Wolken. Ich verlor derweil meinen Geruchs- und Geschmacksinn. Schob das beiseite, was Empfindung heißt. Putzte, schrubbte. Ließ Wasser in die Wanne, hievte den widerwilligen Menschen hinein. Leise summte der Wannenfahrstuhl und tauchte den Mensch in warme Wellen.

Da wurde der Mensch zur Frau, mit einem Blick, der sich vom Umherhuschen entspannte. Ein Leuchten, ein Zurücklehnen, ein Augenschließen.
Mama, du machst das. Mit Absicht. Weil du das hier willst.

Sie sitzt, summt, ich putze, schrubbe jetzt Wände, Teppiche, Decken, lüfte, mache Durchzug. Ich wage es zu atmen.
Meine liebe arme Mama. Ich föhne dir das Haar.
Lasse alle Sehnsucht hineinblasen, alle Erinnerung und suche doch nach der alten, die es nicht gibt: der Erinnerung der letzten Jahre. Kämme und suche und wühle und werde fuchsig, weil ich nichts finde.
Au! Verzeih, ich war zu wild, Mama. Aber ich suche ... dich ... wo hast du dich nur versteckt?

Manchmal wollte ich es nicht wahrhaben, dass sie gegangen war, schon lange, vor Zeiten – an einem Sommermorgen, als sie feststellte, dass die Buchstaben im Buch keine Worte mehr waren.
© by gh