Sonntag, 15. August 2010

Magenknurren

Der Junge spürt, wie die Kälte durch die dünnen Sohlen seiner Turnschuhe kriecht.
Die Schnürsenkel fehlen und dort, wo der große Zeh anstößt, sieht man, dass der Stoff ganz durchgewetzt ist.
Marcel rammt die Hände in die Hosentaschen und wippt hin und her.

Er denkt daran, wie er am Morgen auf dem Schulhof abseits gestanden hatte, ohne Frühstück, dafür mit Magenknurren.
Dann war da auch noch dieser Geruch, der ihm anhaftete wie zäher Klebstoff – kalter Zigarettenqualm und der Dunst ungelüfteter Zimmer.
Den schrägen Blicken seiner Mitschüler mochte er sich nicht mehr aussetzen, mochte auch nicht mehr ihre rümpfenden Nasen sehen.

Er war ein trauriger neujähriger Junge mit einer kleinen Schwester und mit einer Mama, die irgendwie nichts richtig auf die Reihe bekam, seit sein Papa sie alle verlassen hatte.
Corinna, seine Schwester, verstand noch nicht, wie demütigend es war, vertuschen zu müssen, dass man sich nicht wie andere Kinder all die verlockenden Dinge kaufen konnte, die Kinder so gerne mochten.

Dann war da dieser Thomas gekommen.
„Gruß, eh!“, hatte er gesagt.
Marcel hatte nichts erwidert.
„Brauchst nicht so zu tun. Ich weiß Bescheid.“
Marcel hatte mit klopfenden Herzen das Loch in der Hosentasche größer gepult.
„Ich habe auch kein Frühstück. Mutter trinkt und Vater pennt. Sie geben mir Geld, damit ich uns was kaufe ... Aber es reicht nie, das Geld.“
„Hmm...“, hatte Marcel geantwortet und dabei langsam seinen Kopf gehoben.
Thomas sah ebenso abgerissen aus wie er selbst.
Das konnte er auf Anhieb erkennen. Die Knöpfe an seiner Jacke fehlten. Fleckenübersät war die Hose, die er trug.
„Wieso uns?“, fragte Marcel.
„Was – wieso uns?“ Thomas zog die Stirn in Falten.
„Na, du hast gesagt ‚damit ich uns was kaufe. Wer ist uns?“
„Ach so. Ich habe noch eine Schwester, eine Zwillingsschwester. Jenny. Die steht da drüben. Sie hat das Glück, dass sie eine Freundin hat.“
„Ja, einen Freund zu haben ist gut“, überlegte Marcel.
Die Stundenklingel hatte die Kinder ins Klassenzimmer zurückgerufen.

Nun ist es Nachmittag und er steht auf dem Kinderspielplatz seines Viertels.
Noch immer hat er nichts gegessen.
Seine Mutter schlief noch tief und fest auf der Couch, als er nachhause gekommen war. Daneben, auf dem verschmierten Tisch, lag ein Päckchen Tabletten, Papiertaschentücher und ein Schuhkarton mit unbeglichenen Rechnungen.
Corinna war im Kindergarten oder bei Oma, er wusste es nicht genau.
Der Kühlschrank gab nur noch eine halbe Packung Milch her, ein wenig Butter und ein Glas Marmelade. Den Käse, hmm – den konnte man wohl nicht mehr essen...
So war es besser, er ging nach draußen und suchte nach leeren Flaschen, um an ein paar Cent zu kommen.

Es ist kalt. Es ist November und der Regen, der fällt, ist nicht mehr lauwarm wie im Sommer, sondern er sticht mit spitzen Eisnadeln in seine Schultern.
Er zieht sie hoch bis zu den Ohren, um die Kälte abzuwehren. Dennoch friert er – bis tief in sein Herz hinein. Und der Druck der Tränen hinter seinen Augen wird unerträglich, weil er sie nicht weinen will.
Denn dann hat er verloren. Er würde sich eingestehen müssen, dass es keinen Ausweg mehr gibt für seinen Hunger, für sein Frieren.

„He, grüß dich!“
Thomas klopft Marcel auf die Schulter.
„Stehst du schon lange so versunken da? Es regnet. Komm, lass’ uns wo unterstellen.“
Thomas zerrt Marcel am Arm.
„He, lass’ das!“, sagt der frierende Junge. „Es gibt hier nichts zum unterstellen. Aus dem Supermarkt wird man fortgejagt und die Hauseingänge sind alle verschlossen.“ Marcel zieht demonstrativ den Inhalt seiner Nase hoch und schüttelt sich unter der von der Nässe durchweichten Jacke.
„Doch! Ich kenne eine Stelle, wo sie uns nicht hinauswerfen. Dort bekommen wir sogar ein feines Abendbrot. Los, laufen wir. Jenny ist schon dort.“ Wieder fasst Thomas Marcel am Arm und zieht ihn jetzt mit aller Kraft auf den Weg.
Diesmal lässt es Marcel mit sich geschehen. Er ist gespannt, was Thomas, den er erst so kurz kennt, mit ihm vorhat.

Sie laufen mit schnellen Schritten die Straße hinab, kommen am Marktplatz vorbei und biegen in eine Seitenstraße ein.
Schon von weitem sieht Thomas das große Schild über der Eingangstür: TEEPUNKT.
Und auch Jenny ist da.
Sie lächelt ihrem Bruder entgegen. Ihr hellblauer Blick streift Marcel, erst zögernd, dann bereitwillig, den Freund ihres Bruders willkommen zu heißen.
Jenny sieht sauber aus.
Der rote Anorak steht ihr, macht ihr blondes Haar leuchtend.
Sie reicht Marcel die Hand. „Wirst sehen, hier ist es richtig gut. Gleich kommen Frank und Daniela. Dann dürfen wir ins Warme und bekommen Tee und Wurstschnitten. Die sind lecker. Manchmal spielt Frank mit uns ein Spiel oder Heiko erzählt uns Geschichten.“
„Geschichten ...?“ Marcels Stimme klingt abwertend. „Geschichten sind doch was für Kindergartenkinder.“ Er rümpft die Nase.
„Ja, eigentlich schon. Aber diese Geschichten, weißt du, die sind irgendwie besonders. Er liest sie aus so einem dicken Buch vor, dass er BIBEL nennt. Er liest sie nicht genauso vor, wie sie da stehen – sie klingen nämlich so altmodisch, kichert Jenny – nö, er erzählt das ganz spannend. Fast so wie Harry Porter!“ Jetzt grinst Jenny über ihr ganzes Gesicht.
„Nur das der Harry Porter JESUS heißt“, wirft nun auch Thomas ein.
Marcel weiß darauf nichts zu antworten.
Er will nur eines: etwas in den Magen und ein paar warme Füße. Da kann man schon mal eine Geschichte von einem Jesus in Kauf nehmen.