
Vorwort
Die Geschichte ist einer "guten Mär" (ähnlich dem: Vom Himmel hoch, da komm ich her. Ich bring euch gute, neue Mär" - M. Luther) angepasst, also wundert Euch nicht über ihren Klang.
Die Tatsache
Der Strandhafer kitzelte sie an den Beinen. Der Wind blies hartnäckig über das Land und schaufelte kleine Sanddünen um ihre Füße.
Sie hielt die Hand schützend gegen das grelle Sonnenlicht über die Augen, schaute weit hinaus in das Glitzern und Tanzen der See, zählte die Sonnenstrahlen auf den Wellen – allerdings kam sie zu keinem rechnerisch richtigen Ergebnis, so wie sie auch zu keinem kam, was Björn betraf.
Er war so einfach abgereist, hatte sich einfach so davon gemacht. Hatte auf dem großen Frachter angeheuert und seinen Seesack geschultert – und fort war er. Ohne ein Wort, ein Zeichen. Als hätte es das zwischen ihnen nicht gegeben – das zwischen Anke und Björn.
Sie nahm die Hand von der Stirn. Was sollte das Schauen? Er kam nicht über das Meer zu ihr gelaufen wie Jesus, von dem in der alten Bibel stand, dass er das konnte. Und vor dem die Männer in dem Boot einst so erschraken.
Sie klatschte ihre Hände an den Kleiderrock, drückte ihn fest gegen ihre Beine, damit der Wind ihn nicht über ihren Kopf werfen konnte und rannte schnell der Kate nahe dem Ufer zu, in der sie mit ihrer Familie lebte.
„Hast du wieder Ausschau gehalten“, murmelte die Alte in der Ecke, die ihre Großmutter war und meist dumpf vor sich hin brütete. Sie war des Lebens müde, die Alte. Sie war matt und lahm, hatte tränende Augen und zitternde Lippen und das spärliche Haar klebte wie ein zerlöcherter Helm um ihren Kopf.
Die Alte nickte und sprach ihren Singsang. „Ei-ei-ei, was soll das werden. Wächst heran im Dunkel ...“
„Sei doch still!“ Energisch fuhr die Stimme der Mutter dazwischen. „Du mit deinem Gebrabbel! Machst alle verrückt mit deinen dummen Weisheiten.“ Damit stellte die Mutter die Schüssel mit dem Mus auf den Tisch. Verteilte die irdenen Teller. Die Alte erhob sich schwer und ließ sich auf den einzigen Stuhl mit Lehne fallen. Mutter und Tochter hockten auf den dreibeinigen Schemeln.
Der Stuhl, der einem Throne glich, war dem Vater vorbehalten. Der war auf See, oder im Hafen, oder in der Werft ... oder – so genau wusste man das nie. Er kam und ging wie es ihm passte. Meist hatte er einiges intus, das seinen Gang schwankend machte. Doch heute sprang die Tür auf und der Vater betrat groß wie ein Drache den Raum. Den Frauen sanken die Löffel in das Mus, und die Alte knurrte ihr Ei-ei-ei.
„Was glotzt ihr so? Darf ein Mann nicht zum Mittagsmahl heimkommen?“ Er setzte sich mit Jacke und Stiefeln an den Tisch und verbreitete einen feuchten Salzwasserdunst.
Ganz gegen seine Gewohnheit hub er an zu sprechen. Das war das zweite Mal in Folge in kurzer Zeit. „Der Frachter ist raus. Mit den jungen Kerls. Hinrich Seiner ist an Bord. Mit Sack und Pack und glänzenden Augen.“ Das waren mehr Worte als der Vater sonst im Jahr sprach. Die Frauen hockten wie gelähmt am Tischrand und krallten sich fest. Nur Anke wusste, was diese Worte zu bedeuten hatten. Sie waren ein Signal, rotflammend, wütend und zerstörerisch. Anke legte leise den Löffel neben den Teller, erhob sich und lief die schmale Stiege hoch, auf den Hausboden, von wo aus es in die kleinste der Kammern ging, die die ihre war.
Mit zusammengepresstem Mund klammerte sie sich an das Betthaupt. Was sollte nur werden? Was sollte nur werden?
Der Hinrich Seiner, wie ihn der Vater nannte, hatte es vorgezogen, die Entscheidung wohl dem Wind zu überlassen, oder den Möwen, die das zerhacken konnten, was da nicht sein durfte. Sollte sie es in ein Nest legen, zu den Möweneiern? Damit es die Räuber fraßen? Wie hatte Björn sich das gedacht?
Der Vater hatte gewarnt. So einer ist nichts für dich, Deern. Das sind Reiche. Du bist nichts, hast nichts ... Und die Mutter hatte dazu genickt und ihr übers Haar gestrichen. Such dir einen, der zu dir passt, der ein Boot hat und zum Fischen fährt, dem die Beine im Sand stecken und dem es nicht hinaus auf alle Meere zieht. Mein Mädelchen.
Aber was sollte denn Anke machen? Wenn sie liebte, dann liebte sie. Nicht irgendeinen, sondern eben den Einen. Für immer, ganz und gar, unter Sonne und Mond, in Wind und Regen und nicht zuletzt bei Sturm und Eis.
Sie erhob sich vom Bett, schlich hinaus in den Mittagssonnenschein, sprang von Kiesel zu Kiesel, lief über staubfeinen Sand hin unter die hohen, feierlichen Kiefern und barg sich an deren krümeligen Rinden.
Die Einsicht
Björns Zimmer war nicht prächtig gewesen, da irrte der Vater. Ein eisernes Bettgestell, schmal und einsam, hatte neben dem Nachttisch gestanden. Der Vater hielt ihn streng. Vielleicht war Björn deshalb einer, der nach Luft schnappte und Sehnsucht nach der Weite hatte. Konnte es wohl nicht unterdrücken, dieses Jucken nach frischem, freiem Sein ...
Die Fischer bauten in einer Hauruck-Aktion ein Podium am Strand. Im kleinen Hafen der Insel. Aus duftenden Tannenbrettern wurde eine Tanzbühne genagelt. Es war Mai und sie rannte in den neuen Schuhen wie ein Wiesel, oder flog wie die wildeste Lachmöwe und erschreckte die Seeschwalben mit ihrem Freudengeheul. Ihr flog der Rock nur so um die Beine und die Wangen glühten hochrot.
Er lehnte an dem weiß gestrichenen Geländer, rauchte, trank Bier und lachte – der Björn. Breitschultrig war er, weißblond und braungebrannt. Er hielt die Arme über der Brust verschränkt und lächelte ihr entgegen. Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen, wahrte den Abstand, der sich schickte. Aber die Augen, die Augen fanden ineinander.
Und noch mehr. Seine Hand klebte an ihrem Rücken beim Tanz nach der Schifferakkordeonmelodie und zauberte warme Wellen von Kopf bis zu den Füßen – und umgekehrt; nach der Mundharmonikaweise schwenkte Björn sie um den Tanzboden. Der Kuss auf ihren Hals fuhr wie ein Feuerbote durch ihre Seele.
Und dann trieb er sie in den Schatten der warmen Nacht.
Die Großmutter schüttelte am Tag darauf den Kopf. Das Ei-ei-ei blieb ihr fast im Hals stecken beim Anblick der Enkelin an diesem neuen Morgen. Ankes Augenlicht erhellte die Küche bis in den verborgensten Winkel, sie tanzte mit den Tassen im Arm noch einmal den Maientanz – solange, bis die Mutter derb Einhalt gebot. Da wurde die Freude zum duckenden Tier, das sich versteckte. Das Augenlicht verknappte sich, zog seine Strahlen aus den Winkeln der Küche und ließ das Mädchen verstummen in ihrem Gesang.
Der Vater aß bedächtig wie immer seine Morgensuppe. An diesem zweiten Maitag geschah etwas, was noch nie geschehen war. Der Vater nahm seine Tochter wahr. Er legte seinen Löffel beiseite und bohrte den Blick in Ankes Augen. „Du lässt die Finger von dem Kerl, hast du verstanden? Nicht mit dem, nicht mit Hinrich Seinem wirst du was anfangen.“ Großmutter und Mutter erstarrten zu Eis. Sie hatten noch nie erlebt, dass der Vater mehr sprach als nötig war. Er sprach nur von dem, was er brauchte, was zu tun war. Nie sprach er von etwas Bestimmten, was die Familie betraf, gab nie eine Meinung ab, denn es war ja nicht nötig. Keiner lief aus dem Ruder, jeder wusste, was auf dem kleinen Hof zu tun war. Die Mutter rollte die Ärmel hoch, wenn er Fang mitbrachte; sie setzte Kessel voll Wasser auf und wenn es dampfte, trug sie sie in den Schuppen, um dort die Seemannsklamotten zu reinigen von all dem, was daran hängengeblieben war. Sie pflegte die Geräte und den Garten. Sie kochte das Essen und backte das Brot. Und alles geschah in einer Stille, die niemand zu durchbrechen wagte. Erst recht nicht, wenn der Vater die Netze gespannt hatte und in Gedanken dabei saß, sie zu flicken.
Es gab eine Zeit, da war der Vater ein Mann mit blondem Backenbart, hell und lustig. Freundlich strich er dem Mädchen über die Zöpfe, schupste und stupste sie in den Rücken, in die Seite – dort, wo es so kitzelig war und das machte, dass sie rennen und lachen musste.
Er hob die Mutter durch den Sand und drehte sich mit ihr und sie rief: Du Verrückter! Selbst die Großmutter ließ die Sonne in ihren zahnlosen Mund schauen.
Und dann war da der Sohn geboren. So klein, so fein und blond. Und durfte nicht leben. Der Vater erhob seinen Arm gegen Gott und schwor ewige Rache.
Da wurde der Bart um seine Wangen dunkelgrau und verfilzt. Die Augen formten sich zu schmalen, bösen Schlitzen ...
Die Trauer der Mutter ergoss sich in Bitterkeit und in der Pflege des kleinen Grabes. Aber sie vergaß die Tochter nicht, so wie es der Vater tat.
Der Vater, dachte Anke unter den Kiefern mit Rinde an den Wangen, der Vater wird sterben, wenn er es erfährt ...
Prophezeiung
„Ei-ei-ei“, knurrte die Großmutter. Die Mutter zuckte nur mit den Schultern. „Was hast du nur immer? Was grummelst du zwischen deinen Lippen? Sei doch endlich still. Die Leute reden schon, dass du eine alte Unke bist. Willst du es mit allen hier verderben?“
„Du wirst schon sehen“, brummte nun die Alte, „was kommen wird. Sieh dir Anke an.“ „Was soll schon kommen? Sie wird eine Weile Liebeskummer haben. Aber der vergeht. Und dann kommt einer, mit dem sie leben wird.“
„Der Eine muss aber dann viel übersehen lernen – ob der das kann?“
„Was redest du nur?!“ Die Mutter schüttelte den Kopf.
„Kennst du dein Kind so wenig?“ Schwerfällig erhob sich die Alte und schlurfte hinaus in den Garten. Die Mutter hantierte weiter mit ihrer Arbeit und vergaß bald deren ahnungsvolle Rede. Der kleine Sohn wäre nun konfirmiert gewesen und würde mit dem Vater hinaus aufs Meer fahren. Da wäre auch der Vater ganz anders ... Aber was war denn besser? In ständiger Angst zu leben? – Oder schon diesen Schritt getan, diesen Schmerz erlitten zu haben? Was war besser?
Der Vater wütete. Nun verliebte sich dieses Mädel in diesen Lackaffen. Nur gut, dass der ab jetzt außer Sichtweite war. Er musste mit Jacob sprechen. Dessen Sohn hatte das Alter und die eigene Tochter war hübsch und schön. Da konnte nicht viel zu bemängeln sein.
Rechten
Und wenn sie zur alten Mirgel ging? Die, die Engel machte? Ankes Herz begann zu hüpfen, zu klopfen und die Gedanken riefen NEIN!
Doch da saß noch einer auf der Bettkante. Vor dem fürchtete sie sich. Eigentlich. Der war so dunkel und roch nach Schwefel. Und wenn er sich die Hände rieb, dampfte es unerbittlich, so, dass es ihr die Luft nahm. Der Gestank war nicht zu vertreiben.
Nun saß sie also hier. Der Dunkle saß neben ihr. Du meinst also, sprach sie – und dabei überfuhr es sie eiskalt –, du meinst also, das sei gut so? Wenn ich zur Mirgel ginge? Sie hörte ein scharfes Lachen. Was willst du sonst machen? Dein Vater wird das Beil holen und den Balg zerquetschen. Dich wird er ins Nirgendwo jagen. Du wirst in die See gehen müssen. Tu’s und wart nicht länger.
Der Platz neben ihr wurde leer. Der Druck schwand und die Gewissheit wurde stark.
Ja, nur so konnte es gehen. Was sollte sie auch anders machen? So ersparte sie allen großes Herzeleid und Kummer – und der Vater musste nicht zum Mörder werden.
Sie hielt die Hand schützend gegen das grelle Sonnenlicht über die Augen, schaute weit hinaus in das Glitzern und Tanzen der See, zählte die Sonnenstrahlen auf den Wellen – allerdings kam sie zu keinem rechnerisch richtigen Ergebnis, so wie sie auch zu keinem kam, was Björn betraf.
Er war so einfach abgereist, hatte sich einfach so davon gemacht. Hatte auf dem großen Frachter angeheuert und seinen Seesack geschultert – und fort war er. Ohne ein Wort, ein Zeichen. Als hätte es das zwischen ihnen nicht gegeben – das zwischen Anke und Björn.
Sie nahm die Hand von der Stirn. Was sollte das Schauen? Er kam nicht über das Meer zu ihr gelaufen wie Jesus, von dem in der alten Bibel stand, dass er das konnte. Und vor dem die Männer in dem Boot einst so erschraken.
Sie klatschte ihre Hände an den Kleiderrock, drückte ihn fest gegen ihre Beine, damit der Wind ihn nicht über ihren Kopf werfen konnte und rannte schnell der Kate nahe dem Ufer zu, in der sie mit ihrer Familie lebte.
„Hast du wieder Ausschau gehalten“, murmelte die Alte in der Ecke, die ihre Großmutter war und meist dumpf vor sich hin brütete. Sie war des Lebens müde, die Alte. Sie war matt und lahm, hatte tränende Augen und zitternde Lippen und das spärliche Haar klebte wie ein zerlöcherter Helm um ihren Kopf.
Die Alte nickte und sprach ihren Singsang. „Ei-ei-ei, was soll das werden. Wächst heran im Dunkel ...“
„Sei doch still!“ Energisch fuhr die Stimme der Mutter dazwischen. „Du mit deinem Gebrabbel! Machst alle verrückt mit deinen dummen Weisheiten.“ Damit stellte die Mutter die Schüssel mit dem Mus auf den Tisch. Verteilte die irdenen Teller. Die Alte erhob sich schwer und ließ sich auf den einzigen Stuhl mit Lehne fallen. Mutter und Tochter hockten auf den dreibeinigen Schemeln.
Der Stuhl, der einem Throne glich, war dem Vater vorbehalten. Der war auf See, oder im Hafen, oder in der Werft ... oder – so genau wusste man das nie. Er kam und ging wie es ihm passte. Meist hatte er einiges intus, das seinen Gang schwankend machte. Doch heute sprang die Tür auf und der Vater betrat groß wie ein Drache den Raum. Den Frauen sanken die Löffel in das Mus, und die Alte knurrte ihr Ei-ei-ei.
„Was glotzt ihr so? Darf ein Mann nicht zum Mittagsmahl heimkommen?“ Er setzte sich mit Jacke und Stiefeln an den Tisch und verbreitete einen feuchten Salzwasserdunst.
Ganz gegen seine Gewohnheit hub er an zu sprechen. Das war das zweite Mal in Folge in kurzer Zeit. „Der Frachter ist raus. Mit den jungen Kerls. Hinrich Seiner ist an Bord. Mit Sack und Pack und glänzenden Augen.“ Das waren mehr Worte als der Vater sonst im Jahr sprach. Die Frauen hockten wie gelähmt am Tischrand und krallten sich fest. Nur Anke wusste, was diese Worte zu bedeuten hatten. Sie waren ein Signal, rotflammend, wütend und zerstörerisch. Anke legte leise den Löffel neben den Teller, erhob sich und lief die schmale Stiege hoch, auf den Hausboden, von wo aus es in die kleinste der Kammern ging, die die ihre war.
Mit zusammengepresstem Mund klammerte sie sich an das Betthaupt. Was sollte nur werden? Was sollte nur werden?
Der Hinrich Seiner, wie ihn der Vater nannte, hatte es vorgezogen, die Entscheidung wohl dem Wind zu überlassen, oder den Möwen, die das zerhacken konnten, was da nicht sein durfte. Sollte sie es in ein Nest legen, zu den Möweneiern? Damit es die Räuber fraßen? Wie hatte Björn sich das gedacht?
Der Vater hatte gewarnt. So einer ist nichts für dich, Deern. Das sind Reiche. Du bist nichts, hast nichts ... Und die Mutter hatte dazu genickt und ihr übers Haar gestrichen. Such dir einen, der zu dir passt, der ein Boot hat und zum Fischen fährt, dem die Beine im Sand stecken und dem es nicht hinaus auf alle Meere zieht. Mein Mädelchen.
Aber was sollte denn Anke machen? Wenn sie liebte, dann liebte sie. Nicht irgendeinen, sondern eben den Einen. Für immer, ganz und gar, unter Sonne und Mond, in Wind und Regen und nicht zuletzt bei Sturm und Eis.
Sie erhob sich vom Bett, schlich hinaus in den Mittagssonnenschein, sprang von Kiesel zu Kiesel, lief über staubfeinen Sand hin unter die hohen, feierlichen Kiefern und barg sich an deren krümeligen Rinden.
Die Einsicht
Björns Zimmer war nicht prächtig gewesen, da irrte der Vater. Ein eisernes Bettgestell, schmal und einsam, hatte neben dem Nachttisch gestanden. Der Vater hielt ihn streng. Vielleicht war Björn deshalb einer, der nach Luft schnappte und Sehnsucht nach der Weite hatte. Konnte es wohl nicht unterdrücken, dieses Jucken nach frischem, freiem Sein ...
Die Fischer bauten in einer Hauruck-Aktion ein Podium am Strand. Im kleinen Hafen der Insel. Aus duftenden Tannenbrettern wurde eine Tanzbühne genagelt. Es war Mai und sie rannte in den neuen Schuhen wie ein Wiesel, oder flog wie die wildeste Lachmöwe und erschreckte die Seeschwalben mit ihrem Freudengeheul. Ihr flog der Rock nur so um die Beine und die Wangen glühten hochrot.
Er lehnte an dem weiß gestrichenen Geländer, rauchte, trank Bier und lachte – der Björn. Breitschultrig war er, weißblond und braungebrannt. Er hielt die Arme über der Brust verschränkt und lächelte ihr entgegen. Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen, wahrte den Abstand, der sich schickte. Aber die Augen, die Augen fanden ineinander.
Und noch mehr. Seine Hand klebte an ihrem Rücken beim Tanz nach der Schifferakkordeonmelodie und zauberte warme Wellen von Kopf bis zu den Füßen – und umgekehrt; nach der Mundharmonikaweise schwenkte Björn sie um den Tanzboden. Der Kuss auf ihren Hals fuhr wie ein Feuerbote durch ihre Seele.
Und dann trieb er sie in den Schatten der warmen Nacht.
Die Großmutter schüttelte am Tag darauf den Kopf. Das Ei-ei-ei blieb ihr fast im Hals stecken beim Anblick der Enkelin an diesem neuen Morgen. Ankes Augenlicht erhellte die Küche bis in den verborgensten Winkel, sie tanzte mit den Tassen im Arm noch einmal den Maientanz – solange, bis die Mutter derb Einhalt gebot. Da wurde die Freude zum duckenden Tier, das sich versteckte. Das Augenlicht verknappte sich, zog seine Strahlen aus den Winkeln der Küche und ließ das Mädchen verstummen in ihrem Gesang.
Der Vater aß bedächtig wie immer seine Morgensuppe. An diesem zweiten Maitag geschah etwas, was noch nie geschehen war. Der Vater nahm seine Tochter wahr. Er legte seinen Löffel beiseite und bohrte den Blick in Ankes Augen. „Du lässt die Finger von dem Kerl, hast du verstanden? Nicht mit dem, nicht mit Hinrich Seinem wirst du was anfangen.“ Großmutter und Mutter erstarrten zu Eis. Sie hatten noch nie erlebt, dass der Vater mehr sprach als nötig war. Er sprach nur von dem, was er brauchte, was zu tun war. Nie sprach er von etwas Bestimmten, was die Familie betraf, gab nie eine Meinung ab, denn es war ja nicht nötig. Keiner lief aus dem Ruder, jeder wusste, was auf dem kleinen Hof zu tun war. Die Mutter rollte die Ärmel hoch, wenn er Fang mitbrachte; sie setzte Kessel voll Wasser auf und wenn es dampfte, trug sie sie in den Schuppen, um dort die Seemannsklamotten zu reinigen von all dem, was daran hängengeblieben war. Sie pflegte die Geräte und den Garten. Sie kochte das Essen und backte das Brot. Und alles geschah in einer Stille, die niemand zu durchbrechen wagte. Erst recht nicht, wenn der Vater die Netze gespannt hatte und in Gedanken dabei saß, sie zu flicken.
Es gab eine Zeit, da war der Vater ein Mann mit blondem Backenbart, hell und lustig. Freundlich strich er dem Mädchen über die Zöpfe, schupste und stupste sie in den Rücken, in die Seite – dort, wo es so kitzelig war und das machte, dass sie rennen und lachen musste.
Er hob die Mutter durch den Sand und drehte sich mit ihr und sie rief: Du Verrückter! Selbst die Großmutter ließ die Sonne in ihren zahnlosen Mund schauen.
Und dann war da der Sohn geboren. So klein, so fein und blond. Und durfte nicht leben. Der Vater erhob seinen Arm gegen Gott und schwor ewige Rache.
Da wurde der Bart um seine Wangen dunkelgrau und verfilzt. Die Augen formten sich zu schmalen, bösen Schlitzen ...
Die Trauer der Mutter ergoss sich in Bitterkeit und in der Pflege des kleinen Grabes. Aber sie vergaß die Tochter nicht, so wie es der Vater tat.
Der Vater, dachte Anke unter den Kiefern mit Rinde an den Wangen, der Vater wird sterben, wenn er es erfährt ...
Prophezeiung
„Ei-ei-ei“, knurrte die Großmutter. Die Mutter zuckte nur mit den Schultern. „Was hast du nur immer? Was grummelst du zwischen deinen Lippen? Sei doch endlich still. Die Leute reden schon, dass du eine alte Unke bist. Willst du es mit allen hier verderben?“
„Du wirst schon sehen“, brummte nun die Alte, „was kommen wird. Sieh dir Anke an.“ „Was soll schon kommen? Sie wird eine Weile Liebeskummer haben. Aber der vergeht. Und dann kommt einer, mit dem sie leben wird.“
„Der Eine muss aber dann viel übersehen lernen – ob der das kann?“
„Was redest du nur?!“ Die Mutter schüttelte den Kopf.
„Kennst du dein Kind so wenig?“ Schwerfällig erhob sich die Alte und schlurfte hinaus in den Garten. Die Mutter hantierte weiter mit ihrer Arbeit und vergaß bald deren ahnungsvolle Rede. Der kleine Sohn wäre nun konfirmiert gewesen und würde mit dem Vater hinaus aufs Meer fahren. Da wäre auch der Vater ganz anders ... Aber was war denn besser? In ständiger Angst zu leben? – Oder schon diesen Schritt getan, diesen Schmerz erlitten zu haben? Was war besser?
Der Vater wütete. Nun verliebte sich dieses Mädel in diesen Lackaffen. Nur gut, dass der ab jetzt außer Sichtweite war. Er musste mit Jacob sprechen. Dessen Sohn hatte das Alter und die eigene Tochter war hübsch und schön. Da konnte nicht viel zu bemängeln sein.
Rechten
Und wenn sie zur alten Mirgel ging? Die, die Engel machte? Ankes Herz begann zu hüpfen, zu klopfen und die Gedanken riefen NEIN!
Doch da saß noch einer auf der Bettkante. Vor dem fürchtete sie sich. Eigentlich. Der war so dunkel und roch nach Schwefel. Und wenn er sich die Hände rieb, dampfte es unerbittlich, so, dass es ihr die Luft nahm. Der Gestank war nicht zu vertreiben.
Nun saß sie also hier. Der Dunkle saß neben ihr. Du meinst also, sprach sie – und dabei überfuhr es sie eiskalt –, du meinst also, das sei gut so? Wenn ich zur Mirgel ginge? Sie hörte ein scharfes Lachen. Was willst du sonst machen? Dein Vater wird das Beil holen und den Balg zerquetschen. Dich wird er ins Nirgendwo jagen. Du wirst in die See gehen müssen. Tu’s und wart nicht länger.
Der Platz neben ihr wurde leer. Der Druck schwand und die Gewissheit wurde stark.
Ja, nur so konnte es gehen. Was sollte sie auch anders machen? So ersparte sie allen großes Herzeleid und Kummer – und der Vater musste nicht zum Mörder werden.
Ganz leise fiepte da etwas in ihr, wie ein Junges, ein Kätzchen, kaum geboren, noch blind, doch suchend nach dem Schutz und Wärme der Mutter. Ihre Seele wollte schon genauer hinhören, denn sie konnte nicht wirklich den Ton, das Fiepen, ausmachen.
Da tauchte der Dunkle wieder auf und ermahnte sie: Bleib standfest, lass dich nicht locken mit süßen Tönen ...
Maßgeregelt
Die Mirgel wohnte weit ab vom Dorf, hinterm Wald, zwischen Feldern und Wegen. Der Abend nahte und die Sterne begannen, ihre Laternen anzuzünden. Freundlich leuchteten sie auf Ankes Haupt.
Als sie das Tuch um ihre Schultern spannte, trat ihr die Großmutter in den Weg.
Überlege genau was du tust, Anke.
Ja, ja, was soll ich schon tun? Ich geh spazieren, die Luft genießen. Es ist Mai, Großmutter ...
Hastig eilte sie weiter, zwang sich aber dann, langsam zu gehen, gemächlich zu schlendern.
Oh, wie ihr das Herz raste!
Die Seele zauberte ihr ein Bild: Weißer Stoff schwingt leicht im Hauch warmer Luft. Ein Duft pendelt zwischen Stoffbahnen hin und her, unbekannt und doch ganz, ganz vertraut. Süß und weich und milchig. Anke bleibt stehen. Fühlt ihren Bauch. Kleines, denkt sie, Kleines, so wirst du liegen zwischen zarten Kissen, ein Mündchen so süß wie ein Himbeerchen ... Ach, denkt sie, ach ...
Nichts ach! Erschrocken fährt die Hand vom Bauch. Du sollst dem nicht nachgeben, lass dich nicht verlocken, dem Süßlichen – ächz! Dem Ekelhaften. Willst du zur Vatermörderin werden?
Nein, wollte sie nicht. Der süße Hauch fiel dem Schwefeldunst zum Opfer.
Und weitaus holte sie Schritt.
Erkenntnis
„Wieso ist sie nicht da?“, fragte der Vater.
„Sie wollte spazieren gehen“, antwortete die Mutter.
„Was sind das für Marotten? Hat sie hier nichts zu helfen?“
„Ach lass sie“, verteidigte die Mutter die Tochter, „es ist gut so. Sie muss die Trennung überwinden.“
Die Mutter setzte sich an den Tisch zum Vater und schenkte ihm das Glas voll Bier ein.
„Und dann muss sie was wegbringen“, fügte die Großmutter an.
„Was wegbringen? Was meinst du damit?“
Die Mutter hielt im Einschenken inne.
„Das, was nicht sein darf.“ Die Großmutter behielt ihr Ei-ei-ei für sich.
Die Mutter schenkte das Glas voll, stellte die Flasche ab.
„Was darf nicht sein, so red’ doch endlich!“
„Du siehst es immer noch nicht? – Deine Tochter bekommt ein Kind, ein Kleines."
„Ein Kind?“ Die Mutter erblasste.
Der Vater hustete über dem Bier, spuckte und sprühte Tropfen um sich.
„Was redest du für dummes Zeug?“, knallte der Vater die Hand auf den Tisch.
„Überleg dir gut, was du sagst, Alte.“
Aber die Mutter hatte weite Augen und einen offenen Mund.
Sie stand auf.
Schnell lief sie durch den Sand, über die Steine, über die Äste, die wie bleiche Knochen im Mondschein schimmerten.
Und holte ihr Kind endlich ein.
Fasste es an den Schultern, sodass Anke aufschrie.
„Nein!“, schrie sie, „nein, lass mich, ich tu’s ja ...“
„Nein! Du sollst es nicht tun, Anke! Nein, nicht!“
Erst jetzt erkannte Anke ihre Mutter – und, dass es nicht der Dunkle war, der da mit ihr redete.
„Mutter! Mutter? ... Du weißt?“
„Warum hast du dich mir denn nicht anvertraut? – Komm nach Hause, lass uns überlegen, Kind.“
„Aber – der Vater ...“
„Der Vater? Der Vater wird’s überleben. Dafür sorge ich schon.“
„Meinst du nicht, dass er das Kind ... das Kind ... erschlagen ... ?“
„Aber Anke! Was redest du da für wirres Zeug? Dein Vater ist zwar ein rauer Mann, aber kein Totschläger. Also komm.“
Umkehr
Anke stand vor dem Mann, der wie ein Drache war. Der den Bart dunkel hatte und die Augen zu Schlitzen quetschte.
Sie legte die Hand auf ihren Bauch.
Als der Vater diese Geste sah, verließ er stillschweigend die Küche.
Der Winter nahte. Eisgrau lag die Luft auf den Häusern, auf dem Sand und auf dem Meer. Der Junge, der hätte Vater sein sollen, war nicht wiedergekommen. Er ruhte tief auf dem Boden unter der Schwere des Wassers.
Anke aber lief mit einem hellen Gesicht durch die Gegend. Rund und rosig. Mit dicker Jacke und Mütze – und manchmal begegnete sie einem jungen Mann, der der Sohn des Jacobs war. Er war nicht so von glanzvoller Schönheit wie der Vater des Kindes, das bald geboren werden sollte. Aber er war gutmütig, hatte ein selten warmes Herz und Arme voller Muskeln und stämmige Schenkel.
Ja, ab und zu traf sie den jungen Mann, der ihr sein Lächeln zuwarf.
Eines Tages – sie war am Strand, saß auf einem großen Holzbalken, schaute hinaus in das Dumpfe über dem Meer – da dachte sie an den, der ganz unten lag. Nach langem Prüfen und Abwägen spürte sie, dass sie frei von ihm war. Sie war traurig ob seines furchtbaren Schicksals, aber ihr Herz schlug ruhig.
Dagegen schlug es freudig, wenn sie an Jacobs Sohn dachte.
Der mit dem Lächeln.
Er hatte um ihre Hand angehalten.
Der Vater war froh über diese Verbindung. Er sagte es nicht, aber alle konnten seine Gedanken von seinem Gesicht ablesen.
Dann, als es eine stürmische Nacht gab, klopfte Anke heftig auf die Dielen. Die Mutter kam und sah Ankes Not.
Schnell war die Hebamme im Haus und als der Morgen graute, als es gegen neun Uhr ging, drang da ein mildes Stimmchen durch die Kammertür.
Der Vater watete schon seit Mitternacht am Ufer entlang. Schimpfte und rumorte mit dem, der oben vom Himmel aus das Regiment führt – und spürte, wie sein Hass auf den Ewigen nachließ, wie die Kraft der Wut verblasste, der Zorn seine Farbe verlor ... Er sah, wie alles Verkehrte sich glättete und einen Sinn bekam. Wie der Bogen sich spannte – wie aus Verfehlung etwas Heilsames wuchs. Wie ein hartes Herz sich wandeln konnte.
Er wunderte sich, der Vater, dass es so geschah. Und dachte nach.
Im Denken begegnete ihm Gott. Ganz neu.
Und nun ließ er die Verbitterung, den Groll in die Nacht sausen, ließ den Sturm um seinen Kopf brausen und gab dem Einen seine Niederlage – so, dass es ihn selbst auf die Erde schmiss.
Als er nass und kalt und zitternd die Tür zur Kate öffnete, hörte er ein leises Jauchzen. Eilig stampfte er die Treppe hoch, riss am Griff zur Kammer und stand dampfend an der leise wippenden Wiege.
Blond und weich und sanft lag da ein Bübchen.
Die alte und die junge Mutter saßen am und im Bett und summten mit glänzenden Augen das Ankommenslied für kleine Kinder.
Und der Mann, der nun Großvater war, fiel mit seinem Brummen ein in die Melodie.
Nach einer Weile erhob er sich, schaute in das kleine Gesichtchen zwischen den hellen Kissen, und segnete es mit dem uralten Segen seines Gottes.