Mitten herausgerissen ist dieser Text aus einem großen.
Aber vielleicht macht es doch Spaß, diesen zu lesen. Ich glaube, er kann auch ganz gut allein stehen.
Über Lilli
Lilli verabschiedete sich, winkte und lief dann den kurzen Weg wieder zurück.
Eine Möwe saß vor der Tür. Sie hockte auf einem Bein, den Kopf unter dem Flügel und machte ein Nickerchen. Als Lilli näher trat, hob der Vogel seinen kleinen Schopf und starrte das Mädchen an. Die Möwe gähnte, schüttelte sich, tippelte ein wenig hin und her, schaute sich wieder um und flog davon.
Dummer Vogel, dachte Lilli. Könntest deine Zeit auch anders verbringen als hier zu schlafen. Sie lief ein wenig den Weg entlang. Der Nebel, obwohl er begann sich zu lichten, hielt die Leute ab an den Strand zu gehen.
Sie traf an der blauen Pumpe den Pfarrer und den Mechaniker und auch Emmas Mann, die eifrig diskutierten.
Aber die Männer hatten kein Auge für sie. Sie verschwanden in Richtung Pfarrhaus.
Lilli wusste, dass sie sich um Emma sorgten. Wie gut, dass es diese Männer gab, die sich Sorgen machten, denen es nicht gleichgültig ist, was mit Menschen geschah.
Lilli dachte an Gudrun. Wie gern sie dieser Frau half. Sie fühlte sich so aufgehoben, so wertgeschätzt in ihrer Nähe.
Sie war neben Emmas Haus stehen geblieben, an der Treppe, die hinunter zum Ufer führte.
Zugehörig.
Fiel ihr ein.
Das Wort schoss in ihr hoch wie eine Fontäne. Es war ein Wort, das wenig benutzt wurde. Jedenfalls nicht in den Kreisen ihrer Freunde. Da waren ganz andere Worte in, zum Beispiel cool, oder krass – eben die angesagte Jugendsprache.
Aber nicht zugehörig.
Das war ein Wort, über das man nachdenken musste.
Lilli fühlte sich so angesprochen von diesem Wort. Sie hatte es gedacht und benutzt. Es kam ihr nahe. Es bedeutete auch: einschließlich, verwandt, beigeordnet ... Merkwürdig, sie dachte solche Sachen?
Es faszinierte sie so, dass sie ganz still stehen blieb.
Dass sie den Nebel auf ihren Wangen spüren konnte, wie er kribbelte, wie ihre Wimpern ganz feucht waren, wie kühl die Luft war, wie ihr Herz klopfte - weil das Wort ja nicht nur unter anderem, sondern ganz besonders bedeutete, dass sie Anschluss hatte an jemanden, an Menschen – an ihre Familie.
Zugehörig.
Sie war zugehörig ihrer Familie.
Sie hatte Menschen, die sich um sie sorgten – wie die Menschen, die sich um Emma sorgten.
Wie allein Gudrun nun war. Allein in ihrem Wohnzimmer, in ihrem Sessel, allein mit ihren Gedanken.
Sie aber, Lilli, war zugehörig ihrer Familie.
Und bald, ja bald würde sie einen Bruder haben.
Freude quoll in ihr empor.
Freude, dass es so kommen würde. Bald nach Weihnachten, im Frühling wird sie einen Wagen schieben können, schaukeln und wippen – den Bruder, Brüderchen ...
Lilli jauchzte und hielt sich gleich darauf die Hand vor den Mund, schaute, ob sie jemand gesehen, gehört hatte.
Niemand. Keiner da, vor dem sie sich hätte lächerlich machen können.
Nun wollte sie unbedingt heim. Zu ihrer Mutter, ihr endlich ein Lächeln schenken. Verlegen würde sie sein, aber das machte ihr nichts. Mama sollte wissen, das alles gut war.
Im Haus war es still. Lilli traf niemanden an. Ihr Vater war zur Garage gegangen, oben an der Kapelle.
Lilli schaute in das Schlafzimmer ihrer Eltern, ob sich ihre Mama vielleicht ein wenig hingelegt hatte.
Aber das breite Bett war leer.
Noch nie hatte sie das Zimmer ihrer Eltern betrachtet. Noch nie hatte sie das gemacht, so nach den Sachen ihrer Eltern geschaut. Sie kam sich merkwürdig vor, wie eine Einbrecherin. Ich schaue mich nur um, dachte sie.
Das sind meine Eltern. Ich will wissen, wie sie leben. Wie sie leben ... wie ihre Mama lebte.
Über dem Bett lag eine schöne, helle Decke.
Auf dem Bett lag ein Schal. Lilli faste ihn an, hielt ihn vor ihr Gesicht, roch vorsichtig daran. Nur ein bisschen, dachte sie. Ich nehme nichts weg. Nur ein bisschen ... den zarten Duft nach Wind und Salz einatmen.
Sie legte den Schal zurück, strich sanft darüber.
Zugehörig. Bin ich.
Sie ging durch das Zimmer.
Blieb stehen.
Berührte die Dose mit der Creme.
Die Flasche mit dem Nasenspray.
Mamas Haarbürste.
Sie sah einzelne feine Härchen darin.
Über dem geschwungenen Stuhl hing ein dünnes Jäckchen, ein Rock.
Auf dem Bord über dem Bett stapelten sich Bücher. Sie hatte nicht geahnt, dass ihre Mama so viel las. Und so feine Bücher. Sie erkannte sie – es waren die von Gudrun dabei.
Sie sah Fotoalben im Regal. Lilli zog eines heraus und klappte es auf. Ihre Familie. Mama mit ihr als Baby, als kleines Mädchen, als großes Mädchen ... Meine Mama. Sie hat mich lieb, dachte Lilli. Sie hat mir das Schwimmen beigebracht, das Kuchenbacken ... Und nun wird sie mir einen Bruder schenken.
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