Mittwoch, 8. September 2010

Turbulenz im Badezimmer

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„Na, ausgepennt?“, sprach die Zahnpastatube und begann ihren Verschluss in einem Wahnsinnstempo aufzudrehen, sodass er durchs Badezimmer flog.
Erschrocken trat ich einen Schritt zurück und riss die Arme hoch, wobei mir meine rosa Zahnbürste aus der Hand glitt.

„Muss das sein?! Meine Borsten gehen bei so einer Behandlung flötend, ist dir das klar?“
Die Stimme der Bürste klang zerknirscht und vorwurfsvoll.

Hä, dachte ich nur, bin ich im falschen Film? Mir blieb der Mund offen stehen.
Ich blickte von der Bürste am Boden auf das Waschbecken und registrierte die Bewegung der Tube, als diese sich krümmte und der rosa Zahnbürste nach hüpfte. Dabei kleckerte gestreifte Paste aus der Öffnung.

„Du dumme Tube, kannst du nicht aufpassen?! Du beschmierst mich mit deinem schrecklichen Brei! Igitt, so was billiges!“ Die Zahnbürste drehte sich im Kreis, immer schneller wurden ihre Bewegungen und mit einem Satz landete sie auf dem Beckenrand.
„He, dreh‘ den Wasserhahn auf und spül mich ab! Bin total voll von dieser belämmerten Billigpaste!

„Von wegen Billigpaste! Halt bloß deine vorlaute Klappe! Was bist‘n du schon für ne‘ Marke? Dr. Best bestimmt nicht!“

Mittlerweile glaubte ich, dass ich an etwas Schlimmen erkrankt sein muss. Mein Kopf schien von Bakterien befallen zu sein, oder ich hatte einen tödlichen Virus in mir ...
Wieso sprachen meine Zahnbürste und meine Zahnpasta?

„Sag mal, hast du was an den Ohren? Du sollst mich a-b-w-a-s-c-h-e-n, verstanden?“
„Meinst du mich?“ fragte ich zaghaft die im Becken liegende Bürste, wobei ich mir total bescheuert vorkam.

„Siehst du noch so ein Menschenmonster? Nur Menschenmonster können so blöd daher kommen und nichts begreifen. Also dalli, sonst geht’s dir mies!“

„Bürste, mach mal sachte,“ schaltete sich nun Tube ein.
Diese machte eine 180° Drehung auf dem Fußboden, richtete ihre offene Metalldüse auf mich und begann zu glucksen. „Mal herhören, Menschenmonster, wir sind die Chef’s, du bist der Untertan, damit das klar ist. Wenn du auf unsere Anordnung nicht parierst, bekommst du Minuspunkte!“ Tube zeigte auf einen Plan an der Innenseite der Badezimmertür.
„Jetzt ist Stunde Null und somit ist dein Punktestand 100%. Bei jeder Fehlleistung gehen dir Prozente verloren. Solltest du auf 0% rutschen, wirst du im niedrigsten Level leben!“
Ich konnte nur erstarrt fragen: „Und was ist der niedrigste Level?“
„Ha“, schaltete sich jetzt Bürste ein, „du wirst das Nichts vom Nichts sein!
Siehst du den Scheuerlappen dort? Der hat 50 %! Mal dir’s aus, wie weit‘s abwärts geht!“
Grölend kreiselte die Bürste um den Abfluss.
„Eh, ihr Blödmänner!“, meldete sich jetzt mein neuer blauer Kamm, „Erklärt ihr endlich den Fakt, damit sie ranklotzen kann! Ich will mein Vergnügen!“

„Genau“, ließ sich wieder die Bürste vernehmen, „mach hin, Tube, sag ihr’s Programm, los!“
„Immer langsam. Haltet endlich das Maul, ihr Dämlacke!“

Ich rutschte sachte auf den Wäschekorb nieder. Ich konnte nicht mehr. Ich wurde von Plastikdingern beschimpft, dirigiert, befehligt. Was sollte das?

„Also“, hub‘ Tube an zu sprechen, stütze sich dabei auf den Bodenfliesen ab und reckte die dunkle Öffnung in die Höhe, sodass ich in ihr Inneres schauen konnte. Dort wurden farbige Pastestreifen von klitzekleinen Männchen mit nur einem Bein zu einem dicken Strang gewickelt.

„Deine Aufgabe wird sein, unser Dasein so schön wie möglich zu gestalten. Natürlich sagen wir dir nicht, was du tun musst. Du musst schon selbst dahinter kommen. Wenn es dir nicht gelingt, das Rätsel zu lösen, dann bekommst du Minuspunkte und am Ende ... ja, das ist das große Geheimnis! Aber glaub mir: Es wird schrecklich sein! Also streng dich an, damit du ein Menschenmonster bleiben kannst!“

Ich kann nicht mehr, dachte ich. Was mache ich bloß? Das Beste wird sein, ich mach was die da sagen.
Zaghaft fragte ich: „Gebt ihr mir einen Tipp? Hab‘ so gar keine Ahnung ...“
Als hätte ich einen Witz gerissen, fingen die Drei hässlich an zu prusten und zu schreien.
„Wir einen Tipp geben! – soweit kommt‘s noch!“

Die Bürste im Becken spuckte eine Ladung zähen Schleimes in den Abfluss.
Da fiel mir ein, dass ich diese Bürste reinigen sollte. Ich machte einen Schritt auf
das Becken zu, drehte den Hahn vorsichtig auf und nahm zaghaft meine rosa Bürste in die Hand.
Behutsam ließ ich warmes Wasser über Kopf und Stiel laufen und rieb und säuberte sie achtsam und mit weichen Fingern.
Ich spürte plötzlich, dass mit diesem Ding eine Veränderung vor sich ging. Es schmiegte sich in meinen Handteller, wandte und drehte sich, schnurrte vor sich hin und begann langsam von innen her zu leuchten.
Ich drehte das Wasser ab, steckte die Bürste in die Halterung und blieb abwartend stehen.

„Bei mir wirst du es nicht so leicht haben“, quäkte Blaukamm von der Ablage. „Da musst du dir schon mehr Mühe geben!“
„Gib ihr keinen Hinweis, sei vorsichtig!“ warnte Tube, die immer mehr ihre Paste verlor und auf den Fußboden verschmierte.

Ich setzte mich wieder auf den Wäschekorb.
Über mir surrte es. Ich schaute nach oben und erblickte die Liste an der Zimmertür.
Die Zahl „100%“ hatte sich in eine Leuchtziffer verwandelt und während des Bürstenwaschens war sie sogar auf 110% gestiegen.
Nun aber, als ich mich auf den Korb gesetzt hatte, sah ich, wie sich die Zahl verringerte.
Nur noch 85%! Oh man, ging das schnell!
Mein Blick fiel auf Tube.
Was war denn da los? Eine riesige Lache schmieriger Masse hatte sich auf den hellgrünen Fliesen breit gemacht.
Ich schnappte mir – die Zahl war inzwischen auf 65% gefallen – einen Lappen und wischte in einem Affentempo den Mist zusammen.
Ich nahm Tube, die einen lauten Quieker ausstieß, drückte die davonrennenwollenden Männchen zurück, fand den Stöpsel und dreht diesen fest auf das Gewinde.

Puh, das war geschafft. Dennoch fielen die Punkte: 55%!
„Ha, jetzt bist du sprachlos!“ krähte Kamm schadenfroh.
Du kennst mich nicht, dachte ich ketzerisch.
Ich wusch auch Tube unter warmen Wasser sauber, glättete ihre Form und rollte den leeren Tubenteil fein säuberlich auf.
Ich ahnte es schon: Auch Tube fing nach dieser netten Behandlung an zu leuchten.

„Mich schaffst du nicht! Mit mir fährst du ab in den Hades!“ schrie Kamm.
Ich schaute an das Plakat: 80%. Gut.
Ich trank einen Schluck Wasser. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass die Zahl schon wieder sank: 75, 70, 60%...
Schnell stellte ich den benutzten Becher an seinen Ort, griff mir Kamm und entfernte alle Haare daraus. Kamm wehrte sich und sprang in die hinterste Ecke des Zimmers.
Ich sprang hinterher und – fing ihn auf.
Bald glitzerte er fröhlich nach Wäsche und sanfter Massage und lag summend auf der Ablage.
Puh – das wäre geschafft – 100%! Die Zahl blinkte wie toll an der Tür.

Die Türklinke wurde niedergedrückt und mir in den Rücken gestoßen.
Eine Stimme sagte:
„Na, Mami, haste wieder geträumt? Es ist Sieben, wir m-ü-s-s-e-n!“
„Von wegen wir müssen“, schnurrte ich mein blondes Söhnchen an, heute ist SONNTAG!
Sowas aber auch!
(Ich hätte dennoch gern gewusst, was ich im niedrigsten Level gewesen wäre ...).

copy by GH
Nachtrag: Dieses "Ammenmärchen" war einst vor Jahren die Aufgabe von fw - einer Schreibswerkstatt. Ich fand sie wieder ... und stellte sie unverändert ein.
Sie hat Macken und Kanten - sicher ... nun ja ... haben wir die nicht alle? ;o)