
Terrazzotreppe hinunter. Er wedelt aufgeregt mit seinem Spazierstock, dass man meint, er will dem Kurhessischen Pionier-Bataillion Nr. 11 von 1914 als französisch fühlender Patriot ernsthaft entgegenwirken.
Wäre mein Großvater mütterlicherseits tatsächlich französischer Abstammung gewesen, so hätte ich wohl nicht diesen simplen deutschen Namen bekommen, sondern hieße Giselle oder Maquerité oder Jeanne – womöglich noch Jeanne d’Arc!
Aber nein, auch wenn mein Großvater sich nach dem Mittagsmahl auf eine Chaiselongue legt, ist er dennoch ganz und gar deutschabstämmig.
Allons! Seine schmalen Finger umfassen meinen Nacken, schieben mich auf dem Trottoir voran, über den Platz mit dem großen Steinbrunnen vor unserem Mehrfamilienhaus, drüben den kleinen Berg – an der Fleischerei vorbei – hinunter, links um die Ecke ... bis vor die Eisdiele. Nein. Bei meinem Großvater ist es das Caféhaus. Die neue DDR-Bezeichnung ist für ihn intolérable.
Fest umschließt er den verchromten Griff der Tür, drückt sie schwungvoll auf und bleibt stehen. Er schaut.
Ah! Beim Anblick der silbern glänzenden Cafémaschinen und Accessoires wird er von wohligen Schauern überschwemmt und seine Genugtuung angesichts dieser Zeugnisse einer vergangenen Kultur springt auf mich über und lässt mein Herz fröhlich hüpfen. Ich halte die Luft an.
Ich schmiege mich höchst willig in die runde Lehne des Caféhausstuhles, in den mich mein Großvater drückt, ziehe mein Kleid nett über die Knie und lege meine Hände ordentlich in den Schoß. Ich atme aus. Mir schmerzen die Lungen vom gespannten Luftanhalten.
Mein Großvater setzt sich feierlich zu mir, hängt den Spazierstock über die Stuhllehne, fasst in sein Jackett und holt eine Ampulle hervor. Vorsichtig beginnt er sie zu entstöpseln. Er befiehlt mir, auf die Glashülle Acht zu geben, die er auf die Marmortischplatte legt und nimmt die herausgeschüttelte Zigarre in Augenschein.
Er fasst sie zart mit beiden Händen zwischen Daumen und Zeigefinger, führt sie andächtig unter der Nase entlang und saugt mit heftigem Geräusch ihren Duft ein.
Er schließt die Augen.
Ich öffne meinen Mund.
Mit diversem Werkzeug bearbeitet er die Spitze und das Mundstück der Zigarre, ehe er sie anzündet.
Während er mit Wohlbehagen den ersten Rauch ausstößt, winkt er seinen Gacon herbei. Ein Kopfnicken in meine Richtung heißt: wie immer. Es bedeutet, dass ich gleich eine Schlagsahne im eloxierten Becher und eine Tasse Kakao bekommen werde. Er selbst bestellt Bohnenkaffee und Cognac.
Meine Hände fühlen den kühlen Marmor der Tischplatte. Meine nackten Knie stoßen sich darunter an dem gusseisernen Gestell blau. Meine Nasenflügel flattern. Ich kann nicht still sitzen.
Großvaters Zigarrenrauch benebelt mein Gehirn ... und je comprends – ich verstehe – und verstehe nicht – warum das alles so schön ist.
Ah ... mon ami! sagt mein Großvater, als ein ebenso betagter Herr wie er es ist das Café betritt. Sie schütteln sich die Hände und sein Ami nimmt an unserem Tisch Platz.
Auch er bekommt einen Kaffee mit dem Cognac im Gespann. Und so wie mein Großvater davor zieht auch er ein Glasröhrchen aus der Jacketttasche ...
Sie palavern ... sie „perlen“ ... und bekommen rote Apfelbacken und glänzende Augen. Das weiße Haar tragen sie mittelgescheitelt. Nur zwei bis drei Zentimeter darf es links und rechts davon herunter wachsen, dann wird es fürsorglich abrasiert. Der kleine Schnauzer unter der Nase ist ein Muss, eine Homage an das Volk, dem sie wohl gerne angehörten, dem sie sich merkwürdigerweise so verbunden fühlen.
Mein fünfjähriger Geist nimmt noch nicht bewusst den Sinn ihrer Gespräche wahr, aber ich erinnere mich an das Wort Krieg und an den Ausdruck Vierzehn bis Achtzehn.
Beim heutigen Nachrechnen wird mir klar, dass es reine Fantasieerlebnisse waren, die sich die beiden alten Freunde wohl anschaulich vor Augen hielten, denn 1914 war mein Großvater grade mal sechzehn Jahre alt – und wohl kaum tauglich für das Militär.
Die Herren zerdrücken die Reste ihrer Zigarren in dem blauen Aschebecher, zahlen ihre Facture und verlassen hoch motiviert das Cafè.
Allons – treibt mich mein Großvater an und greift mir in den Nacken ...
© gh