Samstag, 6. März 2010

Mary & Bill

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Nighthawks - Edward Hopper

Mary & Bill
Der Versuch, Leben in ein Bild zu hauchen ...
(Schreibaufgabe eines nicht mehr existenten Schreibforums.)


"Es ist so still hier, Billy."
"Ja, Mary, das ist es."
"Weshalb ist es so still?"
"Das ist gewollt, Mary."
"Von wem gewollt?"
Bill kratzte sich an der Nase. "Da muss ich nachdenken."
"Es ist so trist hier, Billy."
"Ja, Mary, es ist trist, das stimmt."
"Und weshalb ist es so trist?"
Bill zupfte sich am Ohr. "Da muss ich nachdenken."
"Oh, Billy! Du machst mich wahnsinnig!"

Mary zupfte an ihrem Kleid und rückte sich in eine bequemere Position auf dem Barhocker zurecht.
"Also, Billy, was ist nun? Hast du eine Lösung?"
"Ich denke schon."
"Na los, sag! Spann mich nicht auf die Folter!"
Bill lüftete seinen Hut, fuhr mit der Hand über das pomadisierte Haar, setzte diesen wieder an Ort und Stelle und sagte: "Es ist so still und trist, weil es gewollt ist."


"Weil es gewollt ist?" Mary zog ihre Stirn kraus.
"Von wem gewollt?"
"Na, überleg mal", antwortete Bill etwas genervt.
"Ich komm nicht drauf. Wer könnte wollen, dass es hier keine Bilder an den Wänden gibt, keinen witzigen Kalender, keine Musikbox. Nicht einmal eine Pflanze verschönert den Laden. Komm, spuck's endlich aus, Billy!"


"Mary, Darling, wer kann schon wollen, dass es so ist wie es ist? Na? ... Edward doch!"
"Welcher Edward?"
"Welcher Edward! Du meine Güte, weißt du denn gar nichts?" Bill wandte sich an den Barkeeper.
"He, Jo, mach mir noch mal das Selbe", und reichte dem Mann mit dem Käppi sein Glas.

"Billy!" Marys Stimme schnappte über. Bill hatte manchmal eine Art, die
machte, dass ihr der Kopf dröhnte. Immer sprach er in Rätseln.
"Mary, weißt du wirklich nicht wer Edward ist? Edward Hopper?" Ein spöttisches Lächeln bildete sich auf Bills Lippen.
"Oh Billy, ist das der Kerl, der uns gemalt hat?"
"Yes, Darling! 100 Punkte!" Bill feixte.


"He Bill, dein Martini!" Jo reichte dem Mann im blauen Anzug das bestellte Getränk.
"Ach bitte, Jo, mach mir einen Shake - mit einem großen Schuss Likör!"
"Gern, Mary."
"Wieso hat Edward alles so karg geschaffen?"
"Wie soll ich das wissen, Mary?" Bill stöhnte.
"Vielleicht mag er keine Schnörkel. Sicher gefallen ihm klare Objekte."
"So wie's hier aussieht magst du recht haben, Bill." Mary stütze ihr Gesicht auf ihre Hände.
"Könnte man wohl daran etwas ändern? Weißt du, ich würde einmal etwas ausprobieren."
"Was willst du ausprobieren? Deine Möglichkeiten sind begrenzt."
Bill nippte am Martini und ließ ein kleines genüssliches Seufzen hören.
"Siehst du die Straße? Wenn wir nun einfach aus der Tür gehen würden ..." Marys Augen tasteten sich durchs Fenster hinaus auf den Gehweg.


"Und dann?" Bill war nicht ganz davon überzeugt, ob es Sinn machte, Marys Gedanken zu folgen.
"Schau dich um. Gegenüber gibt es ein Geschäft. Was das wohl für eines ist? Was mag sich darin verbergen?"
"So wie deine Augen leuchten, liebe Mary, verbirgt sich wohl die tollste Überraschung dahinter", lachte Bill.
"Ach Billy! Nimm mich ernst!" Mary sah gespannt aus dem großen Schaufenster von Phillies Bar.
"Sieh da oben, Bill! Die Rollos sind nur zur Hälfte herabgelassen. Wer mag dort wohnen?"
"Interessiert dich das wirklich? Ich würde lieber die Straße hinunter gehen." Bill schaute rechter Hand aus dem riesigen Fenster.
"Dort sieht es ja noch trostloser aus! Was hat sich wohl dieser Kerl dabei gedacht, dieser Edward XY? Nicht mal einen Gehweg gibt es, keine Bank, keine Tiere, keinen Kinderwagen ... und keine Laterne."


Fröstelnd schüttelte Mary ihren Körper.
"Wahrscheinlich liebt dieser Edward HOPPER die Stille", wehrte Bill Marys Einspruch ab.
"Nicht jeder ist so romantisch wie du."
"Das hat doch nichts mit Romantik zu tun! Man schaut in ein Nichts. Es könnt einen gruseln!"
Bill sah, wie die feinen Härchen auf Marys Armen den Aufstand probten.
"Dann schau nicht hin. Trink deinen Shake. Du hast dich nicht mal bei Jo bedankt", stellte Bill ermahnend fest.
"Oh Jo! Danke für den Shake! Sorry, habe gar nicht bemerkt, dass du ihn mir gebracht hattest", rief Mary mit heller Stimme dem jungen Mann zu.
"It's okay, Mary!"


"Hast du das gehört?" Die junge Frau neigte ihren Kopf zu Bill.
"Was soll ich gehört haben?" Wieder nahm Bill einen Schluck aus seinem Glas und wieder durchrieselte ihn ein Wohlgefühl.
"Na, den Klang seiner Stimme. Jo's Stimme klingt wie aus einem blechernen Lautsprecher."
"Woher willst du wissen, wie ein blecherner Lautsprecher klingt?" Bill verzog spöttisch sein Gesicht.
"Ich weiß es eben. Vielleicht hat dieser Edward HOPPER mir einen Sinn dafür gegeben", entgegnete Mary Bills Einwand mit gleicher Ironie.
"Klar! Weil du ein rotes Kleid trägst und rotes Haar hast bist du prädestiniert für die feinen Gefühle! Also, weißt du...! Bill prustete in sein Glas, das leer war.


"He Jo!..."
"Das Selbe?"
Bill nickte.
Mary nippte an ihrem Shake und leckte mit den Lippen einen Rest Likör ab.
Wie lange saßen sie jetzt eigentlich in Phillies Bar? Einen Abend? Eine Woche?
Sie schaute sich um und bemerkte den einzigen anderen Gast außer ihnen. Auch er trug Anzug und Hut, hatte einen Drink vor sich stehen. Er ist so merkwürdig ruhig, dachte Mary.

"Kennst du diesen Mann?" Mary nickte in die Richtung des Fremden und schaute dann Bill an.
"Nein, nie gesehen."
"Frag ihn doch mal, ob er sich zu uns setzen möchte. Er sieht so einsam aus."
"Das kann ich nicht." Bill stöhnte schon wieder.
"Weshalb kannst du das nicht?", fragte Mary ihren Partner gereizt.
"Ist das so schwierig: Ein Mann fragt einen anderen Mann, ob er Unterhaltung möchte?"
"Siehst du es denn nicht?"
"Was soll ich sehen, Billy?"
"Oh Mary, siehst du nicht, dass er gemalt ist? Er kann nicht rüber kommen."
"Billy!" Wie ein Lichtblitz hing das Wort über dem Tresen.
"Gemalt, Billy? Wie schrecklich!"
Traurig schaute Mary in ihr Glas mit der Milch, die nur noch aus einem Haufen Schaumbläschen bestand.

"Was denkst du, Mary?" Bills Lider hatten sich halb über seine Augen gesenkt.
Was sie dachte?
Wie gern stünde sie von diesem unbequemen Hocker auf, würde aus dieser Bar laufen und nach diesem dummen Maler suchen. Sie würde ihn bitten, Leben in die Straße zu hauchen.
"Na, nun sag schon!"
"Was soll ich denken? Verstehst du eh nicht." Schmollend verzog die rot gekleidete Frau ihren Mund.
"Es käme auf einen Versuch an ..."
"Ach Billy, soll ich wirklich ...?" Mary stoppte mitten im Satz.

Wieder schaute sie zu den Rollos hinüber. Nichts hatte sich verändert. Noch immer waren diese halb herabgelassen, noch immer war Dunkelheit im Laden gegenüber und noch immer führte die Straße ins Nirgendwo.

"Billy, ich möchte, dass wir aufstehen und gehen. Lass uns Edward Hopper suchen und mit ihm reden. Vielleicht ... vielleicht könnten wir uns dann auch ... küssen?" Mary wurde rot. Was redete sie da? Ihr Herz klopfte.
In Bills Gesicht spiegelte sich ein Hauch Verlegenheit wider.
"Nett, wie du das sagst, Mary. Ich möchte dich auch küssen. Aber es geht nicht."
Traurig schaute der Mann in die schönen Augen der Frau.
"Weshalb nicht, Billy?" fragte Mary leise.
"Weil, Liebes, alles um uns herum gemalt ist und wir nie aus dieser Tür gehen können."
"Aber – weshalb können WIR uns bewegen?" Bill konnte sie kaum verstehen.
"Tja, das weiß nur Edward Hopper!"

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