Freitag, 23. Oktober 2009

ilse kommt


Die Siebziger Jahre
Ilse kommt
(eine appetitanregende weihnachtsgeschichte ...)

Am Weihnachtsmorgen haben glücklich machende Düfte sogar die Macht, Wände und Türen zu durchdringen. Sie legen sich auf Gaumen- und Magenschleimhäute. Den Anwesenden läuft das Wasser im Mund zusammen.

Vater steht im Wohnzimmer und raucht. Heute darf er das.
Es ist Weihnachten.
Aber heute musste er auch seine geliebte blaue Schafwolljacke gegen einen salonfähigen, gut sitzenden Cardigan tauschen. Sein Haar ist mit Brillantine in Form gebracht und sein Kinn glatt rasiert. Er duftet und steht aufrecht da, eine Hand in der Hosentasche, die andere hält in selbstsicherer Pose eine Zigarette.
Bläuliche Schwaden verlieren alle Hemmungen und umhüllen weißgewaschene Stores.
Mutter senkt deshalb schon den ganzen Tag die Augen.
Und Mutter denkt: Es ist Weihnachten und verschluckt den auf der Zunge lauernden Vorwurf bezüglich der gefährdeten Gardinen.

Es klingelt.
Ilse kommt! schreit die Familie mit verdrehten Augen.
Ich öffne. Ilse steht verlegen in der Kälte, rote Wangen im weichen, alten Gesicht. Helllichtes graues Haar lockt sich freundlich um die Ohren.
Bin ich zu früh? fragt schüchtern ihr Mund.

Ach nein! antworte ich und ziehe Ilse ins Warme. Wir kennen uns schon lange, seit der Geburt meiner Kinder – und von noch früher – aber wir sind beim vornehmen Sie geblieben.
Geben Sie mir den Mantel, bitte. Hausschuhe? frage ich.
Aber nein – Ilse hat alles dabei. Selbstverständlich auch das kleine Spitzentaschentuch, mit dem sie die feuchten Augenwinkel und die tropfende Nase bearbeitet.
Ich hänge ihren schweren Pelz auf einen Bügel an die Garderobe. Sie zieht die gefütterten Hausschuhe an die Füße, und ich schiebe Ilse vor mir her ins Zimmer.
Mein Vater wendet sich um. Ilses Augen strahlen. Frohe Weihnacht wünscht Ilse. Frohe Weihnacht erwidert mein Vater. Und er bittet: Nehmen Sie doch Platz – hier im Sessel? Auch sie sind beim höflichen Sie geblieben.
Gern. Ilse gleitet sanft in das weiche Polster.
Mein Vater drückt vorsorglich seine dreiviertel gerauchte Zigarette aus und schiebt den Aschebecher außer Reichweite.
Ilse reibt sich die Hände. Wo sind die Kleinen? fragt sie mich neugierig.
Die Kleinen sind bei Oma in der Küche. Dahin muss ich jetzt auch wieder. Sie helfen kochen. Zwischen vier und sechs Jahren sind Mädchen besonders eifrig im Unfug anstellen ...

Als hätten sie’s gespürt, öffnet sich die Tür und Oma schreitet – jawohl! – schreitet mit den Mädchen herein. Sie trägt eine Platte zwischen den Händen: Gänsebraten. Die Mädchen tragen jeder eine Schüssel. Rotkraut, Gemüse, ein Kännchen mit Soße.
Ach, denke ich, lasst das nur nicht fallen! und eile ihnen entgegen, um die guten Leckereien abzunehmen.
Wir platzieren Platte und Schüsseln in formvollendeter Ästhetik in die Mitte des fein gedeckten Tisches.

Ilse erhebt sich.
Kann ich helfen? Und schon steht sie in der Küche, mitten im Dampf des Kloßwassers und schnuppert und riecht und schaut und guckt. Davon werden ihre roten Wangen noch glühender, ihre Locken noch lockiger.
Oh, grüne Klöße! jauchzt sie. Dann erblickt sie das Ofenblech, auf dem noch vor wenigen Minuten die knusprige Gans thronte. Ihre Augen weiten sich. Schnell schiebt sie das Anstandstaschentüchlein in ihren Ärmel, geht auf das Blech zu, greift sich einen matschigen Beifußstängel mit Fleischspuren und Soßenresten und zieht ihn blitzschnell zwischen den Zähnen durch den Mund. Ilses Mundwinkel füllen sich mit Beifuß-Körnerbrei.
Wir schauen sie stumm an. Meine Mutter verharrt regelrecht mit ihrem Spüllappen in einer versteinerten Haltung, die Mädchen lächeln schräg.

Ilse hält inne, legt den abgelutschten Beifußzweig zurück auf den Abfallteller und meint: Man darf doch nichts umkommen lassen!
© gh/01/2009